AI Trendletter
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Markt

TÜV fürs Autonome Fahren

DFKI hilft bei der Entwicklung von AI-Modulen für das Auto der Zukunft

von Reinhard Karger und Vincenzo Lucà
 

Der Tüv Süd und das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) schließen sich zusammen, um Genesis  zu entwickeln – eine offene, nicht proprietäre Plattform zur kontinuierlichen Validierung von AI-Modulen in autonomen Fahrzeugen.

Genau wie der „Körper“ der Fahrzeuge – die Karosserie, der Motor und alle weiteren physischen Bestandteile – wird künftig also auch das „Gehirn“ – die AI-Module – einer Prüfung unterzogen, sodass die Verbraucher sicher sein können, dass die von der Industrie gelieferten Produkte für den Straßenverkehr tauglich und sicher sind.

Allerdings sind auf dem Weg zur fertigen Plattform für das „Autonome Fahren“ noch eine Reihe von technischen Herausforderungen zu meistern, denen sich das DFKI im Rahmen des BMBF-Forschungsprojektes „React“ widmen wird. Tüv Süd unterstützt die Forschung und Entwicklung in React und bereitet zusammen mit dem DFKI die Einführung der Plattform Genesis vor, die dann auch zugänglich für weitere Innovationspartner sein wird. Das Genesis-Konsortium engagiert sich darüber hinaus in den neu gegründeten KI-Normungsgremien der DIN und der ISO.

Die Zeit drängt

Die Zeit zur Realisierung des „Sicheren Autonomen Fahrens“ drängt. Tüv Süd hat sich nun gemeinsam mit dem DFKI der Mission verschrieben, die notwendigen KI-Module für die Zukunftsvision des Autonomen Fahrens zu zertifizieren.

Im Zentrum steht dabei die offene Plattform Genesis. „Das DFKI als größtes Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz ist uns ein starker Partner beim Aufbau von Genesis. Mit seinem Kompetenzzentrum Autonomes Fahren (CCAD) und den Aktivitäten in den Normungsgremien sehen wir uns gemeinsam auf dem besten Weg zu einer sicheren autonomen Mobilität,“ sagt Dr. Houssem Abdellatif, Global Head Autonomous Driving beim Tüv Süd.

Genesis bietet neben der Bereitstellung von Validierungsszenarien insbesondere auch Trainingsmaterial, das eine hohe Abdeckung an kritischen Verkehrssituationen beinhaltet. Dies ist zentral, was den Schutz leichtverletzlicher Verkehrsteilnehmer (VRUs) wie Fußgänger, Radfahrer, Skater betrifft. Nur wenn das gelingt, dann kann das Autonome Fahren realisiert werden.

Schutz leichtverletzlicher Verkehrsteilnehmer

Von allen AI-Methoden ist derzeit „Deep Learning“ für die Erzeugung von Anwendungen im Autonomen Fahrzeug am wichtigsten. Im Wesentlichen handelt es sich hierbei um Neuronale Netze mit sehr vielen Ebenen („deep“), die mit einer großen Anzahl Beispiele trainiert werden.

Dies wird erreicht, indem neben in Testfahrten gesammelten Realdaten auch synthetische Daten verwendet werden. Synthetische Daten werden deshalb benötigt, weil kritische Verkehrsszenarien zu selten und zu unterschiedlich sind, um mit Realdaten abgedeckt zu werden.

Hier liegt der Schwerpunkt der Forschungsarbeit am Fachbereich Agenten und Simulierte Realität des DFKI. Für die Erstellung von Daten bedarf es der Forschung und Entwicklung auf den folgenden Teilgebieten:

- Modellierung von Verhalten aus Intention (z.B. Verhalten eines Fußgängers, der einen Bus erreichen möchte, der bereits um die Ecke biegt)

- Modellierung von Bewegung aus Verhalten (z.B. wie sich ein Fußgänger auf einen Überweg zubewegt, wissend, dass er stoppen wird)

- Rendering von Sensordaten aus Bewegung (z.B. wie sieht die oben beschriebene Szene aus Sicht eines Frontradars aus?).

Lernen mit synthetischen Daten

Das Lernen von Modellen aus synthetischen Daten, die wiederum auf Realdaten basieren und das Testen im virtuellen Raum erlauben, ist ein Spezialgebiet des DFKI-Forschungsbereichs Agenten und Simulierte Realität (ASR) unter Leitung von Prof. Philipp Slusallek. In dieser Funktion setzt er sich seit 2008 dafür ein, AI für relevante Zukunftsthemen in die Praxis zu integrieren, wie bei autonomen Systemen, Industrie 4.0, Visualisierung, kooperativem Arbeiten, 3D-Welten und -Anwendungen.

Dort ist auch das neue CCAD angesiedelt, das alle DFKI-Aktivitäten auf dem Gebiet der AI-Technologien für Autonome Fahrzeuge bündelt. Der Automotive-Experte Dr. Christian Müller leitet seit Kurzem das CCAD.

Im Rahmen des vom „Bundesministerium für Bildung und Forschung“ (BMBF) geförderten Projektes REACT (Autonomes Fahren: Modellierungs-, Lern- und Simulationsumgebung für das Fußgängerverhalten in kritischen Verkehrssituationen) wird innerhalb der nächsten drei Jahre das Grundgerüst für Genesis errichtet.

Gesamtziel von React ist eine systematische, sichere und validierbare Herangehensweise für die Entwicklung, das Training und den Einsatz Digitaler Realität, um ein sicheres und zuverlässiges Handeln von Autonomen Systemen – insbesondere in kritischen Situationen – zu erreichen. Dazu werden Methoden und Konzepte des Maschinellen Lernens insbesondere des Deep Learning und des (Deep) Reinforcement Learning (RL) verwendet, um niedrigdimensionale Teilmodelle der realen Welt zu lernen. So soll die ganze Spanne an existierenden kritischen Situationen erfasst und identifiziert werden, um sie im virtuellen Raum simulieren zu können.

Neben der Umsetzung von AI in die Praxis strebt das DFKI auch eine Rolle bei der Definition von Standards an, wie bei IEEE, DIN und ISO. Auch auf der europäischen Ebene z.B. im Rahmen der Ausschreibung für eine Artificial Intelligence-on-demand-platform, ist das DFKI engagiert. Diese und weitere Standardisierungsvorhaben werden gesondert gefördert.

„Tüv für Künstliche Intelligenz“

Gemeinsam mit dem Tüv Süd wurde im März eine Kooperation gestartet, um AI-Systeme, die beim autonomen Fahren im Einsatz sind, zu zertifizieren. Dafür ist auch ein „Tüv für Algorithmen“ geplant, dessen Methoden und Verfahren erst einmal entwickelt werden müssen.

Dazu erforschen die Experten das Lernverhalten der AI-Systeme, um deren Reaktionen kontrollieren zu können. Im Zentrum steht die erwähnte Entwicklung der offenen Plattform „Genesis“ für OEMs, Zulieferer und Technologieunternehmen. Diese digitale Plattform soll AI-Module validieren und damit die Grundlagen für Zertifizierungen schaffen.

„Tüv Süd kümmert sich seit mehr als 150 Jahren um die Sicherheit und Akzeptanz technischer Innovationen – so auch beim autonomen Fahren“, sagt Dr. Houssem Abdellatif. „Wir freuen uns, das Fahren von morgen gemeinsam mit dem DFKI sicher zu machen und die Herausforderungen bei der Künstlichen Intelligenz anzunehmen.“,

AI-Systeme finden immer mehr Eingang in die Elektronik autonomer Fahrzeuge, um die enorme Zahl möglicher Verkehrssituationen – Tüv Süd-Fachleute schätzen 100 Millionen Situationen pro vollautomatisierter Fahrfunktion – sicher meistern zu können.

Nicht deterministische Reaktionen

Solche Systeme reagieren nicht deterministisch und damit nicht exakt vorhersehbar. Sie lernen vielmehr aus dem Verkehrsgeschehen (das erwähnte „Deep Learning“) und ziehen eigene Rückschlüsse für die richtige Reaktion – treffen also autonome Entscheidungen. Damit die stets im Sinne der Verkehrssicherheit ausfallen, wird Tüv Süd die zugrunde liegenden Algorithmen validieren und zertifizieren, so Dr. Abdellatif: „Bisher weiß man nur sehr wenig darüber, wie AI-Systeme genau lernen. Wir leisten hier Pionierarbeit.“


Anwender der neuen Genesis-Plattform sollen zukünftig ihre Daten und Module hochladen können und nach einer Prüfung ein entsprechendes Tüv-Süd-Zertifikat für die funktionale Sicherheit erhalten. Dr. Christian Müller, Head of Team Autonomous Driving ASR & Competence Center Autonomous Driving CCAD beim DFKI: „Das Interesse seitens der Industrie ist groß. Viele Unternehmen stehen bereits in den Startlöchern, um sich an Genesis zu beteiligen. Wir freuen uns, mit Tüv Süd einen renommierten Partner im Boot zu haben, der international für die Fahrzeug- und Verkehrssicherheit steht.“

„Führerscheinprüfung“ für Autonome Fahrzeuge

Wie schwierig es ist, Methoden für die Sicherheit von AI-Systemen zu entwickeln, liegt auf der Hand. Denn sie ziehen ja ihre eigenen Schlüsse aus den vorhandenen Daten und lernen beim Trainieren von Verkehrssituationen jedes Mal neu dazu – vergleichbar einem Fahrschüler. Die Sicherheit, dass das Fahrzeug richtig reagiert, sollte dadurch kontinuierlich höher werden. Das Erlernte kann dazu in einer Prüfung, ähnlich wie bei der theoretischen Führerscheinprüfung, abgefragt werden. Dr. Abdellatif: „Bisherige Ergebnisse, die mit der Deep-Learning-Methode erreicht wurden, zeigen verblüffend gute Lernerfolge in der Praxis – allerdings weiß bisher niemand genau, was dort eigentlich geschieht. Das werden wir nun gemeinsam erforschen.“

Um autonomen Fahrzeugen dann aber auch für die Straße grünes Licht geben zu können, braucht es zudem eine praktische Prüfung. Dazu müssen die Experten erforschen, wie die AI-Systeme lernen. „Wenn wir genau verstehen, welche Rückschlüsse die Systeme ziehen, können wir eingreifen und das Lernen gezielt steuern. Wir müssen nicht nur wissen, ob ein Fahrzeug bremst, sondern auch warum“, erläutert Dr. Abdellatif.

Beispiel: Überholvorgang auf der Autobahn. Das autonome Fahrzeug überholt auf der linken Spur einen Lkw. Von hinten nähert sich mit großer Geschwindigkeit ein anderes Fahrzeug. Wird das automatisierte Auto abbremsen, um gleich nach dem Überholvorgang auf die rechte Spur zu wechseln, oder wird es die Geschwindigkeit anpassen und ebenfalls beschleunigen?

„Solche Fragestellungen zu erarbeiten und die Antworten darauf zu formulieren – das wird unsere Arbeit in den kommenden Jahren sein“, sagt der Experte. Daten, die aus virtuellen Verkehrssituationen gewonnen werden, überwachen und korrigieren dabei die Lernphase des Algorithmus. Das Ziel: ein Zertifikat (Führerschein) dafür, dass ein Algorithmus ausreichend sicher ist.

Kompetenzzentrum „Autonomes Fahren“

Im Kompetenzzentrum Autonomes Fahren (CCAD) werden alle Aktivitäten der einzelnen Forschungsbereiche des DFKI auf diesem Gebiet gebündelt. Es definiert und koordiniert öffentliche und industrielle Forschungsprojekte und ist zentrale Kommunikationsplattform für Mitarbeiter, sowie Anlaufstelle für externe Kontakte im Bereich Autonomes Fahren. Neben einem Zuwachs an Reisekomfort und Zeit für Produktivität oder Unterhaltung, wie man es von Bahnreisen kennt, versprechen autonome Fahrzeuge vor allem aber eine Reduktion von Verkehrsunfällen.

Trotz erheblicher Verbesserungen in der passiven und aktiven Sicherheit moderner PKW sind heute weltweit noch immer über eine Million Verkehrstote zu beklagen. Da erwiesenermaßen der (menschliche) Fahrer für die allermeisten dieser Unfälle verantwortlich ist, liegt der Schluss nahe, dass autonome Mobilität Leben retten kann. Darüber hinaus verspricht die Technologie eine Verbesserung der Verkehrseffizienz, d.h. eine Verringerung von Staus und damit sowohl einen ökologischen als auch einen ökonomischen Vorteil.

Auch die Rolle des Fahrzeuges als Teil komplexerer Geschäftsmodelle wird in Zukunft wichtiger. Mobilitätsdienstleistungen wie Uber sind nur dann langfristig rentabel, wenn die Fahrzeuge ohne Fahrer auskommen. Auch Google (Waymo) investiert in autonome Fahrzeuge, damit Millionen von Amerikanern durchschnittlich 1,5 Stunden pro Tag länger online sein können.

Bei der Bewältigung der Herausforderungen, die mit der Weiterentwicklung der Technologie sowie der Verifizierung (Abnahme) derselben verbunden sind, kommt der AI eine Schlüsselrolle zu. Vor allem das Maschinelle Lernen, das das Fahrzeug dazu befähigt, seine Umgebung wahrzunehmen, spielt eine wesentliche Rolle. Die dazugehörigen Modelle werden offboard (außerhalb des Fahrzeuges) auf Basis riesiger Datenmengen (Big Data) mit speziellen Verfahren (Stichwort „Deep Learning“) trainiert. Darüber hinaus sind Trainings- und Testfahrten in virtuellen Umgebungen („Synthetic Data“) unerlässlich, damit das Fahrzeug auf selten vorkommende Ereignisse vorbereitet ist.


Reinhard Karger

studierte theoretische Linguistik und ist seit 2011 Unternehmenssprecher des DFKI.

Vincenzo Lucà

ist in Singen geborener Italiener und Journalist und Pressesprecher beim Tüv Süd.

Bildnachweise:

DFKI, Tüv Süd