Mit KI zum Rennsieg
Interview mit Marc Hilbert und Yury Dzerin, Data Scientists bei Volkswagen
von Christoph Witte

JavaSPEKTRUM sprach mit den Data Scientists Marc Hilbert und Yury Dzerin. Sie arbeiten im Volkswagen Data Lab in München, das für den Automobilkonzern an KI-Lösungen forscht. Das jüngste Projekt: Mit Deep Learning analysiert und verarbeitet ein 2-Personen-Team Daten zu Fahrerposition, Körperverlagerung und Schräglage von MotoGP-Fahrern, um Motorrad und Fahrer perfekt aufeinander abzustimmen und so in den Rennen entscheidende Sekundenbruchteile zu gewinnen. Der passionierte Motorradfahrer und MotoGP-Fan Marc Hilbert und sein Kollege berichten von ihren Erfahrungen, die sie im Projekt mit der VW-Marke Ducati gemacht haben.
JavaSPEKTRUM: Was ist das Volkswagen Data Lab?
Marc Hilbert: Das Data Lab beschäftigt rund 80 IT-Experten, die in den Bereichen Data Analytics, Machine Learning und Künstliche Intelligenz arbeiten. Mit den verschiedenen Konzernmarken arbeiten wir an Projekten in unterschiedlichsten Bereichen. Wir wollen natürlich das Produkt Fahrzeug verbessern, aber auch die Prozesse, die nötig sind, um Fahrzeuge zu entwickeln, zu produzieren und zu verkaufen. Unser Team arbeitet im Bereich Engineering, aber das Data Lab ist auch in allen anderen Sektoren wie Finance, Sales, Aftersales und anderen tätig.
Die IT-Experten kommen dabei aus ganz unterschiedlichen Bereichen. Wir haben BWLer, Physiker, Mathematiker, Softwareentwickler und Ingenieure. Ich selbst komme aus der Mechatronik. Typischerweise werden die Projekte bei uns immer mit jemandem besetzt, der auch die fachliche Seite versteht, und mit jemandem, der die reine Datenseite beherrscht. So gibt es immer eine Verknüpfung zwischen Domänen- und Datenwissen.
Worum geht es in dem Projekt?
Hilbert: Ducati ist auf uns zugekommen mit einer Aufgabe, die sie nicht mit konventionellen Mitteln lösen konnten. Es geht darum, die Bewegung des Fahrers auf dem Motorrad messbar zu machen und sie für die Simulation des Rennens zu nutzen – und auf Basis der Simulation das Motorrad optimal auf Strecke und Fahrerverhalten abzustimmen. Die Bewegungen des Fahrers sind nicht linear, sie sind sehr individuell, Fahrer A bewegt sich anders als Fahrer B. Dabei sind die Bewegungen nicht mit konventioneller Messtechnik erfassbar. Deshalb hat man uns gefragt, ob sich das Problem mit Künstlicher Intelligenz lösen lässt.
Marc Hilbert: „Es geht in dem KI-Projekt darum, die Bewegung des Fahrers auf dem Motorrad messbar zu machen und für die Simulation des Rennens zu nutzen.“

Wenn man nicht messen kann, woher kommen denn dann die Daten?
Yury Dzerin: Der Motorradfahrer wird von einer Videokamera aufgenommen, die hinten fest mit dem Motorrad verbunden ist. Diese Kamera schaut ausschließlich entlang der Längsachse des Motorrads nach vorn. So kann sie die Rückansicht des Fahrers und die Bewegungen von Rumpf, Armen und Beinen aufnehmen, die er in jeder Fahrsituation macht. Die Aufnahmen werden Frame für Frame in Hochleistungsrechner eingespeist und von einem Deep-Learning-Algorithmus verarbeitet und analysiert. In unserem Fall handelt es sich dabei um ein 10 Layer tiefes neuronales Netz mit über 60 Millionen Neuronen.
Das hört sich etwas überdimensioniert an?
Dzerin: Wir brauchten aufgrund der hohen Kameraauflösung und der gewünschten Genauigkeit der Schwerpunktberechnung so viele Neuronen. Nachdem der Algorithmus sehr schnell gelernt hat, ob im jeweiligen Frame ein Bein, Kopf, Arm oder Rücken zu sehen ist, konnten wir sehr schnell bestimmen, wo genau sich Rumpf und Extremitäten des Fahrers im Verhältnis zur Längsachse des Fahrzeugs befinden. Diese Informationen nutzt der Algorithmus, um den Schwerpunkt des Fahrers abzuschätzen. Je exakter die Schätzung, desto genau weiß man, wohin der Fahrer seinen Schwerpunkt an welchem Punkt der Strecke verlagert. Je genauer die Maschine auf die Schwerpunktverlagerungen des Fahrers abgestimmt ist, desto exakter lässt sie sich auch in extremen Kurvenlagen steuern. Das wiederum bringt Zeitvorteile, die rennentscheidend sein können.
Warum haben Sie sich für einen Deep-Learning-Algorithmus entschieden?
Dzerin: Mit Deep Learning bekommen wir genauere Ergebnisse als mit klassischer Computer Vision (Maschinelles Sehen). Das Mehr an Rechenpower, das wir dazu benötigen, steht hier im Data Lab ausreichend zur Verfügung. Aber wichtiger ist der zweite Vorteil: Obwohl wir keine Motorsport-Spezialisten sind und im Grunde nicht abschätzen können, was die verschiedenen Bewegungen des Fahrers im Einzelnen bewirken, kommen wir mit Deep Learning zu exakten Ergebnissen.
Yury Dzerin: „Mit Deep Learning bekommen wir genauere Ergebnisse als mit klassischer Computer Vision.“

Wozu werden die Ergebnisse genutzt?
Dzerin: Die Resultate stellen wir Ducati für Rennsimulationen zur Verfügung, die dort benutzt werden, um bestimmte Situationen mit den Fahrern durchzuspielen und letztendlich für eine optimale Abstimmung der Maschinen auf Kurs und Fahrer. Das kann Reifen, Dämpfer oder elektronische Einstellungen betreffen.
Das hört sich für ein Motorrad-Rennen nach einem erheblichen Aufwand an. Lohnt sich das?
Hilbert: Im Motorsport werden viele Entwicklungen getestet, die später in Serienfahrzeugen verwendet werden. Denken Sie nur an Carbonmaterial, Scheibenbremsen oder elektrische Einspritzanlagen. Ähnliche Ziele verfolgen wir. Aber über Details können wir da natürlich jetzt noch nicht sprechen.
Eine auf der Hand liegende Möglichkeit ist, den Kunden beim Kauf eine individuelle Einstellung ihrer Maschine anzubieten. Eine andere wäre, die Ergebnisse zu generalisieren und für unterschiedliche Abstimmungseinstellungen wie sportlich, renntauglich usw. zu benutzen. Wird es auf solche Dinge hinauslaufen?
Hilbert: Mithilfe von KI erkennen wir, vereinfacht gesagt, Eigenschaften. Bei Ducati sind es zum Beispiel die Bewegungen von Bein oder Rumpf des Fahrers. Aber der Methode, die wir jetzt entwickelt haben, ist es völlig gleichgültig, was da über Videobilder ausgewertet wird. Da finden sich auch in Pkws sicher viele Möglichkeiten. Solche Dinge im Motorsport auszuprobieren, ist deshalb angeraten, weil wir hier sehr kurze Entwicklungszyklen, einen sehr guten Zugriff und ein hohes Verständnis der Leute haben, die hier mit Daten arbeiten. Das in die Serie zu übertragen, ist dann entsprechend leichter.
Yury Dzerin: „Data Science im Motorsport auszuprobieren, ist angeraten, weil wir hier sehr kurze Entwicklungszyklen, einen sehr guten Zugriff und ein hohes Verständnis der Leute haben, die hier mit Daten arbeiten.“
Wie lange hat es gedauert, bis Sie Ducati valide Ergebnisse liefern konnten?
Hilbert: Zwei Monate.
Können Sie etwas über die Kosten sagen?
Hilbert: Wir machen anwendungsnahe Forschungsarbeit, da sind Kosten teils schwierig zu bemessen.
Welche Rolle spielt KI für VW beziehungsweise für die verschiedenen Marken im Konzern?
Hilbert: Wir hier im Data Lab arbeiten an vielen Projekten für den gesamten Konzern. Die Nachfrage nach unserer Expertise ist sehr groß, das zeigt sicher auch, dass Künstliche Intelligenz als Thema immer wichtiger wird.
Im Data Lab arbeiten 80 IT-Experten mit unterschiedlichsten Schwerpunkten. Wurden die gezielt nach diesen Schwerpunkten ausgewählt, und hat man sie dann quasi „on the jobs“ zu Data Scientists geschult?
Hilbert: Obwohl wir einen sehr niedrigen Altersdurchschnitt haben, konnten viele, die heute im Lab arbeiten, nicht Data Science studieren, weil es diesen Fokus noch nicht gab. Wir alle haben unterschiedliche Hintergründe und Qualifikationen, aber eines gemeinsam: Erfahrungen gesammelt mit Data-Science-Projekten.
Wie sehen Sie die KI-Entwicklung in Deutschland? Sind wir tatsächlich weit hinter den USA, China oder Großbritannien zurück?
Hilbert: Wir sehen die Entwicklung des Bereichs KI zunächst einmal global. Die von uns eingesetzten Methoden stammen aus der ganzen Welt. Das sind zum Teil Bibliotheken oder Algorithmen, die publiziert worden sind und auf die wir zugreifen können. Von daher kann man die KI-Entwicklung nicht wirklich länderspezifisch betrachten. In der Umsetzung und den Anwendungsbereichen ist das natürlich immer sehr individuell. Das hat auch stark mit der Branchenverteilung eines Landes zu tun.
Marc Hilbert: „Wir sehen die Entwicklung des Bereichs KI zunächst einmal global. Die von uns eingesetzten Methoden stammen aus der ganzen Welt.“

Liegt Deutschland zurück?
Hilbert: Da ist eine klare Aussage schwer. Ich glaube, dass wir gut aufgestellt sind, wir wissen, welches Potenzial KI hat, und ich glaube, wir sind in der Lage, das alles in die aktuellen Entwicklungen einfließen zu lassen. Und wir im Data Lab suchen gezielt nach Use-Cases, in denen wir KI einsetzen können.
KI und gerade Deep Learning benötigen sehr viele Daten, um gute Ergebnisse zu erzielen. Viele Experten sagen, dass in Deutschland und Europa gar nicht genug Daten vorhanden beziehungsweise im Zugriff sind, damit Deep-Learning-Verfahren tatsächlich lernen können und gute Ergebnisse liefern. Teilen Sie diese Ansicht?
Hilbert: Das muss man ebenfalls sehr projektspezifisch betrachten. Wenn Sie mich zum Beispiel fragen, ob es genügend Daten gibt, um unser Schwerpunktproblem zu lösen, dann antworte ich ganz klar mit Ja.
Das Interview führte Christoph Witte.
