AI Trendletter
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Meinung

Es ist Zeit für Artificial Intelligence

Artificial Intelligence ist die neue Elektrizität

von Walter Denk
 

Artificial Intelligence (AI) ist aus dem Winterschlaf erwacht. Nach 20 Jahren ohne nennenswerte Fortschritte geht es jetzt Schlag auf Schlag: Der weltbeste Go-Spieler musste sich vor kurzem Googles DeepMind geschlagen geben – und Forschern der Carnegie Mellon Universität ist es gelungen, mit ihrer Libratus AI besser Poker zu spielen, als ein Mensch es je könnte. Im Gegensatz zu Schach ist es in diesen Fällen nicht möglich, die optimale Strategie durch simples Durchrechnen aller Züge und Optionen zu finden.

Dramatisch gesteigert hat sich auch die Qualität der Gesichts- sowie Texterkennung. Durch mehr und mehr Bilder und Texte, die für das Training der Algorithmen zur Verfügung stehen, verbessern sie sich stetig von selbst. Das Schweizer AI-Labor IDSIA um Jürgen Schmidhuber schaffte es 2012 zum ersten Mal, ein neuronales Netz zur Bilderkennung zu trainieren, das menschliche bis übermenschliche Leistungen zeigte. Diese rekurrenten neuronalen Netze verbessern – so zahlreiche Vergleichsstudien – die Genauigkeit gegenüber bisher existierenden Verfahren um 30 bis 80 Prozent. Der springende Punkt ist aber – siehe Abbildung 1 –, dass große neuronale Netze mit zunehmender Datenmenge nahezu linear skalieren, während klassische Machine-Learning-Algorithmen ab einem bestimmten Punkt an ihre Grenzen stoßen. Dann werden die Algorithmen auch mit zusätzlichen Daten nicht mehr besser.

Spezialisierte Hardware-Entwicklung befeuert den Durchbruch von AI

Haben die Forscher nun also endlich den besten Algorithmus gefunden, um eine echte Artificial Intelligence zu erschaffen? Die Antwort lautet: nein. Denn neuronale Netzwerke, auf denen die aktuelle Renaissance der AI-Entwicklung fußt, gibt es schon seit Jahrzehnten.

Vielmehr verdankt die AI ihren jetzigen Durchbruch zweifelsohne den Sprüngen bei der Hardware-Entwicklung, insbesondere dem Einsatz von „Graphic Processing Units“ (GPU). Damit ist der Weg frei für viel größere und komplexere Netze und ganz neue Ansätze wie „Transfer Learning“.

Dabei eignet sich die AI Wissen anhand einer gewissen Datenmenge an, um das Problem A zu lösen. Anschließend nutzt sie dieses Wissen, um das Problem B zu lösen, ohne jemals vorher Daten dafür gesammelt zu haben.

Auf diesem Fundament öffnen sich gerade zahlreiche neue Türen, die AI übernimmt immer mehr Tätigkeiten, die bisher nur uns Menschen möglich waren. Aber ganz einfach ist es nun auch wieder nicht. Es reicht nämlich nicht aus, einen Haufen Daten mit dem richtigen Algorithmus zu kombinieren und so auf magische Weise Aufgaben zu lösen.

Faustregel: Wann lohnt sich der Einsatz von AI?

Zunächst einmal stellt sich die Gretchenfrage: Wann sollten Unternehmen auf AI setzen und wann nicht? Wofür lohnt sich die Entwicklung einer künstlichen Intelligenz? Andrew Ng, einer der Vorreiter in der Forschung zu maschinellem Lernen und ehemaliger „Chief Data Scientist“ bei Baidu, hat hierzu eine eingängige Faustregel entwickelt: Alle Probleme oder Aufgaben, die ein Mensch durch eine Sekunde Nachdenken zu lösen vermag, kann man schon jetzt oder in naher Zukunft durch AI automatisieren. Diese Faustregel beinhaltet zwei wichtige Aspekte:

  • 1. Wir konzentrieren uns auf Aufgaben, die Menschen lösen können. Dies sind ganz automatisch Aufgaben mit einem greifbaren Nutzen. Menschen sind beispielsweise bis dato nicht in der Lage, Aktienkurse vorherzusagen – auch wenn das manche Zeitgenossen gerne behaupten. Unternehmen sollten ihr Augenmerk also auf Probleme richten, mit denen sich ihre Mitarbeiter tatsächlich im Berufsalltag beschäftigen.
  • 2. Der zweite Aspekt ist die kurze Zeitspanne: Welche kognitiven Aufgaben kann ein Mensch innerhalb einer Sekunde lösen? Einige Anwendungen von AI zeigen dies beispielhaft: Ein Mensch braucht keine Sekunde, um eine Katze auf einem Bild zu erkennen, und Simultan-Übersetzter können Reden in Echtzeit übersetzen.


Aus meiner Sicht ist der entscheidende Dreh- und Angelpunkt das gut trainierte menschliche Gehirn. Wir Menschen müssen mühsam lernen und Fehler machen, bis wir zum Beispiel eine ausreichende Sprachqualität erreichen. Danach aber können wir in Sekundenbruchteilen auf diese erlernte Fähigkeit zugreifen.

Auch Anwendungen des maschinellen Lernens funktionieren nach diesem Prinzip – Abbildung 2 zeigt die entsprechende Feedbackschleife für AI-Produkte. Im Gegensatz zum menschlichen Lernen können wir aber den Zeitaufwand für das maschinelle Lernen durch den Einsatz von Technik drastisch verkürzen, denn: Für Maschinen wird Zeit nicht in Sekunden gemessen, sondern in der Anzahl der Berechnungen pro Sekunde. Der limitierende Faktor für effizientes und schnelles Lernen ist also allein die Hardware – und diese Hürde fällt gerade.

Schneller und besser: AI-gestützte Systeme bringen schon heute viele Prozesse auf Vordermann

Wie weit der Einsatz von AI in Unternehmen derzeit gediehen ist, zeigen exemplarisch die beiden folgenden AI-Anwendungsfälle, die ganz konkret Prozesse verbessern. Genutzt werden dafür unternehmenseigene Daten.

  • 1) Personalvermittler und HR-Abteilungen setzen auf AI-gestützte Lösungen, um ihre klassischen Probleme in den Griff zu bekommen. Insbesondere die Top-Arbeitgeber kämpfen mit zwei Herausforderungen: Wie finde ich aus den Hunderten von Bewerbern pro Stelle den jeweils am besten geeigneten Kandidaten? Und: Wie entwickle ich meine Mitarbeiter so, dass ihre Fähigkeiten jetzt und auch in Zukunft auf dem neusten Stand sind?

    Sicher, Personaler mit viel Erfahrung können auch bei 200 bis 300 Bewerbern schnell die Spreu vom Weizen trennen. Und natürlich gibt es bereits computergestützte Lösungen. Doch bei 300 Bewerbern summieren sich selbst zwei Minuten pro Bewerbung schnell zu Tagen. Durch die Verknüpfung intelligenter Textverarbeitungstechniken und automatisierter Wissensgenerierung aus historischen Daten ist es bereits heute möglich, den kompletten Auswahlprozess zu automatisieren – ganz ohne menschliches Eingreifen.

    AI-Anwendungen können dabei nicht nur den Text aus Lebensläufen extrahieren. Neuste  Textverarbeitungstechniken erfassen selbstständig Kontext sowie Themengebiete aus Dokumenten und Fließtexten: Wie viel Berufserfahrung hat der Kandidat über alle vorherigen Anstellungen verteilt? Insgesamt zehn Jahre Erfahrung als Java-Entwickler in drei verschiedenen Firmen, dazu zwei Jahre Projektmanagement? Kein Problem.

    Trainiert anhand von Tausenden unternehmensspezifischen Stellenausschreibungen und  individuellen Bewerbungen kann die AI auf die Erfahrungen Hunderter Personaler zurückgreifen. Zusätzlich hat die AI nicht mit Vorurteilen zu kämpfen und kann deutlich mehr Informationen zur Bewertung heranziehen als ein Mensch. Auch nach der Einstellung kann die Personalabteilung AI vielfältig nutzen, zum Beispiel zur Beantwortung folgender Fragen: Welche Fortbildungen sollte mein Mitarbeiter Meier jetzt absolvieren? Welche Maßnahmen sind am effektivsten, um Frau Zimmermann ans Unternehmen zu binden – und wann ist der richtige Zeitpunkt dafür? Spannende Fragen – für jeden von uns

  • 2) Auch die Welt von Marketing und Kommunikation wird meiner Erfahrung nach gerade stark von AI-Anwendungen durcheinandergewirbelt – Tendenz steigend. Sentiment-Analyse oder zielgerichtete Werbung gehören schon länger zum Alltag, doch die heutige Generation AI-gestützter Marketing-Plattformen kann weit mehr: Sprachverarbeitung in Kombination mit prädiktiven Modellen und maschineller Wissensgenerierung übernimmt alle Aufgaben einer klassischen Marketing-Agentur komplett. Welche Überschrift erhält die meisten Klicks? Welche Inhalte faszinieren die Besucher und sorgen für lange Verweilzeiten? Wie können Marketingmanager die Konversionsraten erhöhen?

    Antworten auf diese Fragen sind das A und O des Marketings. AI kann heute aber nicht nur zwischen drei oder vier vorgedachten Titelüberschriften wählen und durch A-/B-Tests die beste Headline bestimmen, sondern beliebig viele selbst generieren sowie individuell auf kleinste Mikro-Segmente zuschneiden. Ein schönes Beispiel dazu finden Sie hier. Damit erreichen wir einen Punkt, an dem eine AI eben keine reine Anwendung mehr ist. Vielmehr substituiert sie dann tatsächlich menschliche Arbeit.

Fazit
Ihre größten Potenziale spielen AI-Anwendungen nicht in der Produktentwicklung aus – außer natürlich man heißt Google oder Facebook. Sehr viel grundlegender sind die Fähigkeiten der AI, unsere menschliche Arbeit zu automatisieren – über alle Branchen hinweg. Ich rate Ihnen daher: Orientieren Sie sich nicht zu sehr an den AI-Produkten der großen Technologie-Unternehmen. Setzen Sie die AI-Brille auf und packen Sie Ihre eigenen Geschäftsprozesse und -funktionen an, um konkrete Automatisierungspotenziale zu erkennen. Unternehmen, die heute das Thema AI noch nicht vorantreiben, werden morgen von der leisen, aber effizient elektrisierten Konkurrenz überholt werden.


Walter Denk

Dipl.-Math.
kombiniert als Data Science & Machine Learning Consultant bei Capgemini mathematisches Fachwissen mit langjähriger Entwicklungserfahrung, um komplexe Anwendungen im Bereich „Machine Learning & Data Science“ zu realisieren. Seine Themenschwerpunkte sind Big Data Analytics, AI-Services und Maschinelles Lernen. In diesem Kontext berät und schult er Kollegen sowie Kunden praxisnah im Umgang mit und bei der Realisierung von Machine-Learning-Lösungen.

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